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Eine Rampe reicht nicht: Interview mit Raúl Aguayo-Krauthausen

Raúl Aguayo-Krauthausen ist Inklusions-Aktivist, Blogger und Gründer von Sozialhelden e. V., einem Verein, der konstruktiv an Lösungen für mehr Teilhabe und Barrierefreiheit arbeitet. Er ist eine der engagiertesten Stimmen für Inklusion und Barrierefreiheit und dabei multimedial unterwegs: Gerade hat er ein Kinderbuch herausgebracht. Am 10. April liest und diskutiert er im Gasteig HP8. Im Interview erzählt er, woraus er Kraft für seine Arbeit schöpft.

Ein Mann mit Brille, Bart und Schiebermütze. Er sitzt in einem Rollstuhl und bedient ein Smartphone.
Copyright: Anna Spindelndreier

Gerade ist Ihr Kinderbuch „Als Ela das All eroberte“ erschienen, das Sie zusammen mit der Illustratorin Adina Herrmann geschrieben haben, die selbst auch mit Behinderung lebt. Gibt es viele Kinderbücher zum Thema Behinderung?

Es gibt natürlich schon Literatur zum Thema. Aber es gibt nur sehr wenige Bücher, die von Menschen mit Behinderung selbst geschrieben und auch illustriert wurden. Oft ist die Perspektive problematisch, einseitig oder klischeebehaftet. Oder so pädagogisch, dass die Kinder sie langweilig finden. Wir haben versucht, eine Mischung aus Abenteuer und Ernsthaftigkeit zu finden.

 

Wie gehen Kinder denn mit Menschen mit Behinderung um?

Wir bringen Kindern oft die falschen Dinge in Bezug auf Behinderung bei. Wir bestrafen sie dafür, wenn sie neugierig sind. Dadurch lernen sie, dass man nicht hinguckt oder nicht nachfragt. Viel zu selten vermitteln wir die Normalität. So entsteht Behindertenfeindlichkeit in der Gesellschaft: Wenn wir Kindern beibringen, dass Behinderung etwas ist, wo man nicht hinschaut oder wo man froh sein kann, dass man sie nicht hat. Da werden oft schlimme Bilder gezeichnet. Oder aber, wenn wir ihnen sagen, dass man betroffene Menschen alles direkt fragen kann. Auch das kann schwierig sein, denn nicht jede*r will in die Situation gebracht werden, sich outen zu müssen. Sobald die Kinder dann anfangen, das alles zu internalisieren, wird es problematisch.

 

Sie sind derzeit die lauteste Stimme in Deutschland für Inklusion und Barrierefreiheit. Sie bloggen, podcasten, schreiben Bücher, moderieren, treten im Fernsehen auf: Was gibt Ihnen diese immense Energie – und was raubt Ihnen Kraft?

Wir arbeiten im Team, es fühlt sich nicht schwerer an als für jemanden ohne Behinderung. Mit der Zeit gewinnt man Routine und Kontakte. Die Reichweite wird größer, und jedes Folgeprojekt lässt sich leichter erzählen. Kraft raubt oft, dass einem so was nicht zugetraut wird und man erklären muss, warum man es trotz Behinderung macht. Oder dass man bewundert wird, weil man mal ein Buch geschrieben hat. Und Kraft raubt, dass man überhaupt Bücher zu demThema schreiben muss. Wir leben im 21. Jahrhundert, wir können zum Mond fliegen. Trotzdem sind wir immer noch nicht in der Lage, Kindern und Erwachsenen ein authentisches, neutrales Bild von Behinderung zu vermitteln.

Barrierefreiheit im Gasteig

Wie wir den Gasteig für alle zugänglich machen.
Eine Gruppe Menschen stehend oder in Rollstühlen, werfen die Arme in die Luft und freuen sich.
Feierstimmung bei Team und Freund*innen der Sozialhelden: Raúl Krauthausen wurde 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Copyright: Sozialhelden

Eine Ihrer Forderungen ist, dass wir alle uns mit unserem eigenen Ableismus auseinandersetzen sollten. Wofür steht der Begriff?

Ableismus ist das Gleiche wie Rassismus oder Sexismus, nur bezogen auf Behinderung. Der Begriff beschreibt Behindertenfeindlichkeit. Und das bedeutet nicht zwangsläufig, dass man aktiv feindlich einem behinderten Menschen gegenüber ist, es kann auch bedeuten, dass es strukturelle Diskriminierung gibt. Zum Beispiel Lektor*innen, die sich nicht vorstellen können, dass es behinderte Autor*innen gibt. Oder dass man bei der Deutschen Bahn 48 Stunden vorher anmelden muss, wenn man mit dem Rollstuhl mitfahren möchte, was kein Fußgänger tun müsste. So etwas ist strukturelle Diskriminierung, die auch zum Ableismus gehört.

 

„Manchmal wünsche ich mir, dass man auch den Arsch in mir sieht“, haben Sie mal in einem Interview gesagt. Empfinden Sie es auch als diskriminierend, besonders freundlich behandelt zu werden?

Genau, das ist dann positive Diskriminierung. So wie man auch sagt, dass Frauen schön sind und Männer schlau oder Schwarze gut tanzen können. Das ist natürlich nicht in Ordnung. Dennoch sollte grundsätzlich niemand ein Arsch sein.

 

Von funktionierenden Aufzügen, Rampen und geeigneten Parkplätzen mal abgesehen: Was wünschen Sie sich von einem Kulturzentrum wie dem Gasteig, das wirklich für alle zugänglich sein möchte?

Am meisten fehlt die Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Und das nicht nur im Publikum, sondern auch auf Bühnen und Leinwänden. Diese Begegnungen sollten nicht nur dann passieren, wenn irgendetwas „für alle“ heißt oder „mittendrin“ oder „Inklusion“, sondern bei allen Veranstaltungen. Zum Beispiel in der Begegnung des Publikums mit einer Schauspielerin, die unerwarteterweise im Rollstuhl sitzt. Das ist es genau, was die Inklusion ausmacht. Wenn Sie Leute erreichen wollen, die nicht interessiert sind, noch nie davon gehört haben oder es nicht wollen, dann müssen sie dort auftauchen, wo diese Wörter erst gar nicht benutzt werden. Das Publikum sollte nicht das Recht haben, sich dem Thema zu entziehen. Es braucht mehr Selbstverständlichkeit, und hier sind vor allem die Programmmacher*innen und Leitungen von Kulturinstitutionen gefragt. Mit einer Rampe ist es nicht getan. Es geht auch um das Casting, um Rollenbesetzungen und schon viel früher: um Ausbildungsmöglichkeiten für alle.

 

Mehr Informationen auf raul.de

 

Hinweise zum Gasteig in leicht verständlicher Sprache gibt es unter gasteig.de/leichte-sprache.

Lesung und Gespräch mit Raúl Aguayo-Krauthausen

10. April, 19:00 Uhr, Saal X, Veranstaltung der Münchner Stadtbibliothek

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