Was genau ist Drag? Könnt ihr diesen Begriff für alle erklären?
Ruby: Drag ist in erster Linie eine Kunstform, die alle Lebensbereiche und Genres abdeckt – von Theater über Familienunterhaltung bis hin zu sexy Performances im Club. Drag ist aber auch eine politische Haltung, da diese Kunstform viel mit Selbstbestimmung und dem Durchbrechen gesellschaftlicher Konventionen zu tun hat. Wir wollen mit Drag zeigen, dass alle so sein können, wie sie wirklich sind. Das stößt einigen Menschen auf, weil viele gar nicht reflektieren, was es für gesellschaftliche Rollen gibt, und ob die zu ihnen passen. Vielleicht würden viele auch gern aus der Norm ausbrechen, trauen sich aber nicht. Drag ist eigentlich eine Verkleidung. Vereinfacht gesagt ist bei uns jeden Tag Fasching.
Die Verwandlung steht bei Drag also im Mittelpunkt. Wie kam Drag in euer Leben?
Bridge: Verkleiden spielte in meinem Leben immer schon eine wichtige Rolle. Ich habe zur Karnevalszeit Geburtstag, und zu meinen Partys mussten die Leute immer kostümiert kommen. Inzwischen ist mir Karneval egal, weil ich’s beruflich mache. Mit 17 Jahren hatte ich meinen ersten Nadelstreifenanzug. Seit 1985 stehe ich professionell auf der Bühne, seit 1990 mache ich Drag. 2002 habe ich das erste große Drag-Festival in Berlin veranstaltet, 2022 das zweite. Und go drag! munich ist das 3. go drag!-Festival.
Ruby: Ich komme aus der Burleske-Szene, bin Diplom-Designerin und arbeite als freie Fotografin. Vor 13 Jahren habe ich selbst angefangen zu performen. Ich kannte Travestie und Drag-Queens, aber keine Drag-Kings, dafür gab es weder Vorbilder noch eine mediale Präsenz. Ich hatte den Wunsch, auch als Mann aufzutreten, aber mir fehlte ein Vorbild. Bis ich 2013 während der Arbeit an einem Fotobuch über die Burleske-Szene zum ersten Mal Bridge gesehen habe – da wusste ich, dass es das überhaupt gibt. Vor Corona war ich in München allein als Drag-King unterwegs. 2021 habe ich dann den ersten Drag-King-Workshop gegeben, und mittlerweile ist einiges los in der Szene.
Was macht Drag mit eurem ungeschminkten Selbst? Hat es euch verändert?
Bridge: Jeder Mensch hat viele Persönlichkeitsaspekte. Das hat immer mit Situationen, Menschen oder auch mit den Hormonen zu tun. Wahrscheinlich bin ich nicht binär, aber das mit den Pronomen ist mir relativ egal – wie vielen älteren Menschen. Da es für junge Leute wahnsinnig wichtig ist, gehe ich da aber gerne mit und benutze die Pronomen, die sie haben wollen. Wichtig war und ist für mich immer das fluide Spiel, daher habe ich wahrscheinlich auch meinen Name Bridge, also Brücke, gewählt. Eigentlich heiße ich Brigitte, aber durch die englische Aussprache ist mit der Zeit Bridge daraus geworden.
Ruby: Ich bringe verschiedene Facetten von mir selbst auf die Bühne, dort kann ich mich ausleben. In meinen Drag-Performances bin ich komplett im Moment und tausche Energie mit dem Publikum. Das sind wunderschöne Momente, dafür nehme ich gerne den ganzen Verwandlungsaufwand auf mich.
Wie entwickelt ihr eure Figuren?
Ruby: Ich würde eher von Performance sprechen und nicht von einer Figur, die sich jemand ausgedacht hat. Je nachdem wie umfangreich, kann ein Act Wochen oder Jahre in Anspruch nehmen, das Vorbereiten vor der Show dauert auch bis zu vier Stunden. Ich habe um die 20 unterschiedliche Performances, um ein Bild von mir auf die Bühnezu bringen. Ich möchte nicht als schöne Frau oder starker Typ auftreten, sondern eher ein Gefühl, eine Botschaft oder einen Witz in Motiven und Geschichten ausdrücken.
Bridge: Ich würde schon von Rollen sprechen, die ich verkörpere, aber mittlerweile nicht mehr zählen kann. Seit 2005 performe ich in meiner Reihe „classic in the box“ meist klassische deutsche Theaterstücke wie eine Drag-Show. In jeder Show stecken viele verschiedene Elemente. Ich spiele beispielsweise in „nathan in the box“ neun verschiedene Rollen im schnellen Wechsel: Ich habe Puppen als Gegenspielerinnen dabei und playbacke das ganze Stück. Die Verwandlung von einer Figur in die nächste mache ich auf der Bühne für das Publikum sichtbar.
Auch eine Familienlesung wird es beim Festival geben. Erst im letzten Jahr hat eine Drag-Lesung in einer Münchner Stadtbibliothek für Aufruhr gesorgt. Was sagt ihr dazu?
Ruby: Drag ist für alle Bevölkerungsschichten und Lebensalter, wir können und wollen uns nicht davon einschüchtern lassen, dass Rechte oder andere Gruppen etwas dagegen haben, weil wir Diversität leben. Deswegen stand für uns fest: Eine Lesung für die ganze Familie muss mit ins Festival-Programm.
Bridge: Kinder haben einen ganz natürlichen Zugang zu Drag: Sie lieben es, sich zu verkleiden, und tun das auf ganz spielerische Weise. Es gehört für sie einfach zu ihrer Lebenswirklichkeit dazu. Daher finde ich auch, dass Drag und Kinder wahnsinnig gut zusammenpassen.
Was wünscht ihr euch vom go drag! munich?
Bridge: Wir wollen zeigen, dass es sehr viele Formen von Drag gibt, von unterschiedlichen Menschen performt. Es ist egal, welches Ausgangsgeschlecht jemand hat, ob ich binär bin oder nicht, oder welche Art von Zuordnung man sich gibt. Im Fokus stehen beim Festival besonders die Leute, die in der Öffentlichkeit nicht so stark wahrgenommen werden – das sind aktuell eher Frauen, trans*- oder nicht binäre Personen, ein paar Männer sind auch dabei.
Ruby: Wir möchten ein größeres Bewusstsein dafür schaffen, dass Drag nicht nur für junge, dünne Cis-Männer ist, sondern dass jede*r bei den Drag-Shows willkommen ist. Gleichzeitig möchten wir mehr Chancen und Offenheit für weibliche, trans*- und nicht binäre Menschen in der Gesellschaft erreichen. Wir haben neben lokalen Drag-Artists auch Künstler*innen verschiedenster Herkunft im Programm, z. B. Majic Dyke aus Kenia oder Vujo aus Polen. Und eine Drag-Queen, die im Rollstuhl sitzt, kommt mit ihrer Tochter, ebenfalls im Rollstuhl. Inklusion von Menschen mit Behinderung ist sehr wichtig, nicht nur hinsichtlich des Publikums, sondern auch für Drag-Künstler*innen.
go drag! munich
Das go drag! munich findet vom 1. bis 5. Mai u. a. im Gasteig HP8 stattText: Anna Steinbauer und Maria Zimmer