So unterschiedlich die Menschen und deren Schicksale auch waren, die bei den Begrüßungsgesprächen vor Dominik Pensel saßen – eines hatten alle geflüchteten ukrainischen Musikstudent*innen gemeinsam: die tiefschwarz unterlaufenen Augen. „Ich erinnere mich an diese eindrücklichen dunklen Augen, in denen die Müdigkeit von der Flucht, die Erfahrungen der letzten Wochen und die Sorge um die Zukunft geschrieben standen“, sagt der Beauftragte für studentische Förderung an der Münchner Musikhochschule.
Knapp ein Jahr später blicken wir in drei freundliche, offene, neugierige Augenpaare. Stanislava, Sophia und Yuliia gehören zu den ukrainischen Studierenden, die derzeit an der HMTM eingeschrieben sind und sich dazu bereiterklärt haben, von ihren Erfahrungen im letzten Jahr zu erzählen. Die 22-jährige Bratschistin Stanislava und die 26-jährige Geigerin Yuliia sind Schwestern und stammen aus Odessa, wo sie beide an der Musikhochschule studierten, als die Russen angriffen.
Zunächst hofften beide, dass der Krieg schnell vorbeigehen würde. Doch nach einem Monat flüchteten sie dann mit ihrer Familie über Rumänien nach Bayern, wo sie zunächst bei Freund*innen unterkommen konnten. Stanislava hatte von einem Professor in München gehört, bei dem sie gerne studieren wollte, also kontaktierte sie die Hochschule, die sie und ihre Schwester im April 2022 aufnahm.
Als erste Hochschule in Bayern entwickelte die HMTM ein spezifisch zugeschnittenes Gaststudien-Programm, das ukrainischen Studierenden ermöglicht, ihr Studium fortzuführen und die Aufnahmeprüfung für ein reguläres Vollstudium zu machen. Dafür habe es vorher in Bayern weder eine rechtliche noch eine organisatorische Struktur gegeben. „Auffangen und das Weiterstudieren ermöglichen, das war unser Auftrag“, sagt Pensel.
„Als der Krieg ausbrach, wurde uns schnell klar, wie die Situation für die Ukrainer*innen aussah, die ihr Land verlassen mussten. Daher begannen wir zu überlegen, wie wir an der Hochschule möglichst vielen geflüchteten Musik-, Theater- und Ballettstudent*innen umfassend helfen und ihnen die Gelegenheit geben können, weiterzustudieren“, erzählt Pensel. Es sollte schnell ein Studien- und Förderprogramm für geflüchtete Student*innen aus der Ukraine eingerichtet werden. Die Herausforderung war groß, viel Arbeit und Herzblut flossen in dieses Vorhaben.
Die 20-jährige Sophia kommt aus Kiew und studiert Chorleitung. Zu Beginn der russischen Invasion flüchtete sie in die Westukraine, wo sie anderen Geflüchteten half. Aber die Musik fehlte ihr zunehmend. Über eine Freundin landete sie in Zürich und bewarb sich schließlich in München. „Es war eine sehr schwierige Entscheidung für mich, allein aus der Ukraine wegzugehen. Ich verstand, dass ich, wenn ich dort blieb, vielleicht keine Musikerin werden könnte – und das war doch immer mein Traum“, erzählt die Studentin.
Weit über 200 Anfragen von Ukrainer*innen habe die Hochschule in den ersten Wochen des Krieges erhalten. Da qualitative Aspekte nicht im Vordergrund stehen sollten, sei es notwendig gewesen, ein Auswahlverfahren einzurichten, das sich nach Faktoren wie Bedürftigkeit, Wohnmöglichkeit oder Diversität richtete. Viele Lehrende haben sich bereiterklärt, unentgeltlich zu unterrichten – bis heute. Ein wichtiger Faktor, der es der Hochschule ermöglichte, schon im März und April des vergangenen Jahres 50 Studierende aufzunehmen.
Heute ist die Anzahl aller eingeschriebenen ukrainischen Studierenden bereits auf 70 gestiegen. Weiterstudieren bedeutet ein umfangreiches Gesamtpaket: Neben dem Unterricht erhalten die Studierenden finanzielle Unterstützung, bekommen Deutschkurse und Unterkünfte sowie Hilfe in sämtlichen Lebenslagen. Die Flucht und die neue Umgebung der Hochschule intensivierte den Traum vom Musiker*innen-Dasein für die drei Ukrainerinnen.
Der grausame Krieg dauert schon ein Jahr, ein Ende ist nicht in Sicht. Sophia betont, dass sie in diesem letzten Jahr, in dem sie allein, fern von ihrer Heimat, stets in Sorge um Mutter, Bruder und ihren einberufenen Vater, viel über sich gelernt habe: „Es ist eine Erfahrung, die ich trotz allem nicht missen möchte. Man kann die Vergangenheit und die schrecklichen Ereignisse nicht ändern. Aber ich bin sehr dankbar dafür, dass ich hier gelandet bin, und all das hat mich stärker gemacht“, sagt die Chorleitungsstudentin. Über Neujahr konnte sie ihre Familie besuchen und auch ihren Vater kurz sehen, was für sie sehr wichtig war. „Meine Reise in die Ukraine und zurück war wie ein Schlüssel, durch den ich Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden kann“, erzählt die Ukrainerin.
Was sich die drei Musiker*innen für die Zukunft wünschen? „Ich möchte Musik machen und andere Menschen durch meine Musik inspirieren“, antwortet Sophia. Zustimmendes Nicken der beiden anderen. Es sei kein Zufall, dass Orte wie die Musikhochschule in Charkiw zerstört wurden, so Pensel. Ukrainische Kultur werde schrittweise ausgelöscht, das sei Teil des Kriegsziels der Russen. Die Hochschule für Musik und Theater München wolle den geflüchteten Studierenden wenigstens einen Teil davon wiedergeben, was ihnen genommen wurde.
Die HMTM im Gasteig HP8
Unterstützer des Projekts: UNITEL Musikstiftung, Siemens Caring Hands, Stiftung „Offene Chancen“, Ernst von Siemens Musikstiftung, Erika und Georg Dietrich Stiftung, Metropoltheater, Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie zahlreiche private Förder*innen.
Auf Wunsch der HMTM werden die Nachnamen der Studentinnen nicht genannt.
Update November 2023: HMTM erhält Preis des Auswärtigen Amts für Programm für geflüchtete Studierende aus der Ukraine
Text: Anna Steinbauer