Ilknur, seit wann bist du taub?
Ich bin spät ertaubt, und es ist auch nicht ganz klar, wie es dazu kam. Als ich ungefähr zweieinhalb Jahre alt war, hat meine Mutter festgestellt, dass mit meinem Hörvermögen etwas nicht stimmt. Zu Beginn war ich noch nicht vollständig taub, sondern schwerhörig, ich konnte bis zur Jugend noch Musik mit Hörgeräten hören. Mit 18 Jahren hatte ich noch mal einen Hörsturz. Seitdem bin ich komplett ertaubt.
Welche Rolle spielt Musik in deinem Leben?
Ich habe es sehr geliebt, Musik zu hören und zu tanzen. Als Jugendliche habe ich Kindern Gebärdenlieder beigebracht und Tanz unterrichtet, was mit meiner kompletten Ertaubung erst mal auf Eis lag. Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, meine Taubheit zu verarbeiten, und die Musik erst mal weggeschoben. Aber nach fünf Jahren habe ich versucht, den Mut zu finden, zurück zur Musik zu kommen – nicht übers Auditive, sondern übers Haptische. Tanzen hatte für mich dabei etwas Therapeutisches: Ich konnte mich total ausleben und abschalten. Trotzdem war es noch nicht dieses Gefühl von „Ich habe die Musik wieder“. Das kam erst durch die Beschäftigung mit Deaf-Performance zurück.


Wie bist du mit dieser Kunstform in Berührung gekommen?
Das habe ich dem „Oben Ohne Open Air“ in München zu verdanken. Im Jahr 2021 wurde für das Festival jemand gesucht, der Tauben Menschen Konzerte vermittelt. Ich wurde angefragt und gemeinsam haben wir überlegt, wie wir Musik für Taube Menschen überhaupt umsetzen und sichtbar machen können. Deaf-Performance ist ein neues Phänomen, es gibt verschiedene Stile und Methoden zu arbeiten. In mir hat das eine große Lust ausgelöst, Musik zu performen. Wenn ich darüber nachdenke, kriege ich jetzt noch Gänsehaut und bin sehr dankbar für diese riesige Chance, die sich da aufgetan hat.
Bei der „Langen Nacht der Musik“ bist du zum dritten Mal als Deaf-Performerin im Gasteig HP8 und begleitest den Auftritt des Münchner Trios Sinem. Wie bereitest du dich darauf vor?
Ich arbeite am liebsten ausgehend vom Text und bekomme Setlist und Liedtexte vorher zugeschickt. Es ist wichtig zu verstehen, dass ich keine Musikdolmetscherin bin: Ich übersetze die Songs nicht eins zu eins, dann wäre visuell nicht so gut wahrnehmbar, was die Musik ausmacht. Ich überlege eher, wie ich die Musik zugeschnitten auf ein taubes Publikum vermitteln und visualisieren kann, zum Beispiel mit dem Einsatz meiner Mimik oder Gebärdensprachpoesie. Dafür recherchiere ich, welche Metaphern in den Texten stecken und wie ich Rhythmus und Stil der Musik aufgreifen kann.


Da geht bei Sinems Anadolu-Post-Punk bestimmt die Post ab, oder?
(Lacht) Das ist eben Punk! Laute Konzerte sind super für Gehörlose. Als Deaf-Performerin kann ich mich besser anpassen und spüre den Rhythmus über die Vibration im Boden und im Körper. Dank iTunes kann ich mir die Lieder vorab mit Untertiteln durchspielen und verfolgen, wie schnell sie sind. Natürlich muss ich üben, damit ich Botschaften in Gebärdensprache so rüberbringen kann, wie es zu Sinems Musik passt. Beim Konzert selbst habe ich dann eine Art Teleprompter, auf dem der deutsche Originaltext und meine Version in Gebärdensprache untereinander angezeigt werden. Eine Gebärdensprachdolmetscherin hört den Live-Sound und klickt den Teleprompter für mich weiter, sodass mein Timing zur Band passt.
Sinem singen türkische Texte. Wie kommst du damit klar?
Das ist ein schöner Zufall, denn ich bin Türkin. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, ist meine Familie nach Deutschland gezogen. Ich lese türkisch nicht unbedingt flüssig, habe aber meine Familie viel gefragt, was bestimmte Metaphern bedeuten. Sinem haben mir die Texte sogar noch in deutscher Übersetzung geschickt, das ist sehr lieb und praktisch für mich. Vielleicht lasse ich in Refrains auch Anteile von türkischer Gebärdensprache einfließen, die komplett anders ist.
Was ist das Schönste an so einer Performance für dich?
Es ist supergeil, dass ich performen darf und Konzerte miterleben kann. Beim „Oben Ohne“ habe ich zum ersten Mal gesehen, dass Taube einem Konzert tatsächlich folgen können und die Musik wirklich ankommt. Das ist der Hammer! Bis jetzt besuchen Gehörlose selten solche Veranstaltungen, aber die Zielgruppe wird immer größer. Mein Ziel wäre, dass Deaf-Performances für alle Veranstaltungen zur Selbstverständlichkeit werden. Wenn die erste taube Person ein Ticket kauft oder kommen möchte, dann gibt es eine Deaf-Performance. Diese Entwicklung braucht Zeit, aber jedes Jahr geht ein bisschen mehr.
Text: Maria Zimmerer