Charlyn, ich möchte mit dir über Held*innen sprechen. Hast du welche?
(lacht) Der Baseballspieler Hank Aaron aus Atlanta, der für die Boston Braves spielte, war wahrscheinlich mein erster Held. Im Laufe der Jahre hat sich mein Bild von Held*innen aber verändert. Als ich in meinen Zwanzigern die Welt bereiste, habe ich realisiert, dass ein*e Held*in auch eine Mutter sein kann, vielleicht in Südafrika mit einem 75-Liter-Wasserkrug auf dem Kopf, mit zwei Babys und fünf Körben. Und genau das ist für mich heldenhaft: Jeden Tag eine Meile zu Fuß zu gehen, um Wasser und Nahrung zu besorgen, und sich gleichzeitig um die Kinder zu kümmern, ohne jegliches Einkommen, Geld, Elektrizität, Schule oder sonstige Hilfe. Es gibt diese Art von Alltagsheld*innen, die still, unbeobachtet und unbelohnt bleiben. Für mich sind diejenigen Held*innen, die nicht aufgeben und die Welt um sich herum bereichern, mit wenigen oder gar keinen wirtschaftlichen Mitteln.
„Ich denke, dass wahres Held*innentum einfach darin besteht, ein Mensch zu sein."
Ist Bob Dylan für dich ein Held auf musikalischer Ebene?
Ich verehre ihn seit meiner Kindheit. In meinen frühen Zwanzigern habe ich Bob Dylan geradezu vergöttert. Ich hatte das Gefühl, dass er eine mythische Kreatur ist: teils Genie, teils Jesus, teils Freund. Aber ich bin älter geworden, und ich habe diese Mythen in meinem jüngeren „romantischen Ich“ zurückgelassen. Vor allem, als ich selbst zur Songwriterin wurde, relativierte sich sein Genie für mich immer mehr im Vergleich zu den Künstler*innen, die ich kennenlernte. Die Person, die ich jetzt in meinem Herzen trage, ist Bob Dylan aus der Sicht einer erwachsenen Frau mittleren Alters und alleinerziehenden Mutter.


Wie war es für dich als junge Musikerin in einer Welt, in der die Vorbilder hauptsächlich Männer waren?
Ich würde sagen, es ist heute noch immer so. Als ich jung war, hatte ich keine weiblichen Vorbilder. Wie die meisten Mädchen fühlte ich mich sehr allein in einer Welt von Sexobjekten. Heute gibt es für Frauen definitiv mehr Karrieremöglichkeiten und Identitätsentwürfe in der Kunst und in allen Branchen. Dennoch beobachte ich das gleiche Mindset und die gleichen Herausforderungen, Hindernisse und Kämpfe wie damals. Frauen werden immer noch ständig nach ihrem Verhalten, ihrem Aussehen, ihrer Sexualität, ihrem Gewicht und ihren Worten beurteilt. Es ist genau wie damals, wir sind nur lauter. Und wir sind mehr. Aber ich glaube, wir haben noch nicht einmal an der Oberfläche unserer kollektiven Kraft gekratzt.
Für dein neues Album coverst du Bob-Dylan-Songs. Beim Konzert in der Isarphilharmonie wiederholst du Lied für Lied Dylans legendäres Live-Konzert von 1966. Warum?
Ein paar Begebenheiten führten dazu, dass ich mich im November 2023 dazu entschied, dieses Konzert genauso zu wiederholen, wie Dylan es 1966 in London gespielt hat: In einigen amerikanischen Staaten wurden Bücher verboten, das Abtreibungsrecht wurde abgeschafft, die Geschichte der Schwarzen wurde ausgelöscht. Mir wurden plötzlich die Situation und die Macht Amerikas bewusst: Wenn es in einer Demokratie so weit kommen konnte, was würde dann in einigen Jahren in diesem Land passieren? Und genau da sind wir jetzt. Ich dachte, wenn ich das Konzert aufnehme, dann ist das ein Beweis für das, was Bob damals zu sagen versuchte.
Was wollte er denn vermitteln?
Damals waren die jungen Leute so verzweifelt, dass sie einen neuen Weg in die Freiheit suchten. Und das Konzert von Bob Dylan 1966 war deshalb so legendär, weil Dylan sich von einem Folksänger in einen Rockstar verwandelte, indem er mitten im Konzert seine Akustikgitarre gegen eine E-Gitarre austauschte. Bobs Umstieg auf die E-Gitarre beeinflusste den Rock ’n’ Roll, was wiederum das Bewusstsein der jungen Leute veränderte und eine Revolution auslöste. Ich wollte Bob und diesen Moment ehren, weil ich das Gefühl habe, dass es in der Musik momentan keine jungen Held*innen gibt.

Spielst du Dylan, um Mut zu machen?
Wenn ich zum Beispiel „Mr. Tambourine Man“ singe, erinnere ich mich daran, als ich fünf Jahre alt war und mich in einem Raum voller verrückter Erwachsener auf Drogen befand. Der wahrscheinlich wildeste Ort meines Lebens war definitiv meine Kindheit. Meine Eltern waren jung, als sie mich bekamen, und ich wurde erst ab meinem fünften Lebensjahr von ihnen aufgezogen. Als ich sie kennenlernte, war das wie eine Reise in eine andere Dimension. Es waren die 1970er-Jahre, da war alles möglich. Als ich zum ersten Mal „Mr. Tambourine Man“ hörte, fühlte es sich so an, als würde der Raum stillstehen. Das Lied brachte damals die Lautstärke in meinem Kopf zum Schweigen. Es war wie in der Kirche oder wie der Weihnachtsmann. Es gab mir den Glauben daran, dass es etwas Schöneres und Echteres gibt, und eröffnete mir einen Safe Space – ohne all den Rauch und den ekligen Männern. Wenn ich jetzt vor Publikum „Mr. Tambourine Man“ singe, widme ich es immer deren Kindheit.
Generationen von Musikkritiker*innen, Fans und Musiker*innen haben versucht, den Text dieses Liedes zu interpretieren. Was ist so besonders daran?
Ich habe das Gefühl, dass dieses Lied uns alle verbindet, weil es darin um den Glauben an das Gute und die Menschlichkeit geht. Es ist so kraftvoll wie eine Hymne aus der Bibel, und ich fühle mich wirklich wie eine Heldinnenfigur in Bob Dylans Texten. Er ist „nur ein zerlumpter Clown im Hintergrund“, singt er. Seit ich „Mr. Tambourine Man“ singe, ist mir klar geworden, dass Bob vielleicht von sich selbst spricht. Vielleicht muss er derjenige sein, der aufsteht und für die Leute singt, weil es außer ihm niemanden gibt, der das tut. Wenn mir die Leute sagen: Deine Musik bedeutet mir sehr viel, du bist eine Heldin für mich, dann rührt mich das sehr, denn vielleicht hat mir dieser Song eines Nachts das Leben gerettet.
Cat Power in der Isarphilharmonie
Text: Anna Steinbauer