Hadija, hast du eine Held*innenfigur, die dich inspiriert?
Ich habe keine*n Held*in im klassischen Sinne, sondern glaube, jeder Mensch kann heldenhaft sein, indem er über sich hinauswächst. Es gibt in der Geschichte und auch aktuell viele mutige Personen, die ihren Mund aufmachen, eigene Komfortzonen verlassen und gegen den Strom antidemokratischer Erzählungen schwimmen. Mit Blick in die Vergangenheit sind es für mich Menschen, die friedvolle Revolutionen angestoßen haben. Menschen, die beispielsweise der afrikanischen Philosophie des Ubuntu gefolgt sind wie Nelson Mandela und Desmond Tutu. Aber auch publizistische Stimmen wie die von Audre Lorde oder bell hooks. Ich habe ihre Texte gelesen und war inspiriert von ebendiesem Mut und ihrer Klarheit. Für mich ist es bedeutsam, wenn Menschen echte, offene Gemeinschaften bilden wollen und sich nicht beirren lassen, auch wenn gesellschaftlich gerade genau das Gegenteil passiert.
Du schreibst gegen Ungerechtigkeiten an, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind. Wie steht es denn um unsere Gesellschaft?
Ich war 28 Jahre, als ich mein erstes Ableismus-kritisches Seminar gemacht habe. Danach habe ich die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen immer mehr und überall wahrgenommen. Die Ausgrenzung zeigt sich an so vielen Orten und alltäglichen Beispielen in der Sprache oder strukturell in Gesetzen und Machtverhältnissen. Aber auch in Vorstellungen von einem guten Leben und einem defizitären Denken über behinderte Menschen. All das hat eine lange Geschichte, die weit über den Nationalsozialismus hinausgeht und in die Zeit eugenischer Forschung reicht. Es ist eine Geschichte, über die viele Menschen wenig wissen. Wenn ich heute zum Beispiel in einem Nebensatz sage, dass ich ein behindertes Kind habe, dann weiß manches Gegenüber nicht damit umzugehen, was mir immer wieder zeigt: Es gibt gar kein Denken, keine Sprache darüber und zu wenig Begegnung.
„Die Ausgrenzung zeigt sich an so vielen Orten und alltäglichen Beispielen in der Sprache oder strukturell in Gesetzen und Machtverhältnissen.“
Wieviel Mut hast du gebraucht, um dieses Buch zu schreiben?
Der Mut ist gewachsen. Es ist quasi die Fortsetzung meines ersten Buches „Die Schönheit der Differenz“. Darin geht es um unsere Unterschiede im Menschsein und wie sich Erfahrungen im Bevorteilt- und Benachteiligtsein überschneiden können. Und darum, welche Rolle gesellschaftliche Strukturen und unsere Gewaltgeschichte dabei spielen, die zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen. Aktuell befinden wir uns in einem politischen Backlash: Viele Menschen ignorieren die Umstände oder glauben, dass wird schon wieder. Oder sie sind weniger besorgt, weil sie glauben, selbst nicht betroffen zu sein. Aber Behinderung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Es betrifft alle – vielleicht auch einen selbst irgendwann. Darum hoffe ich, dass meine Gegenerzählung viele Menschen aufnehmen. Vielleicht macht sie ihnen Mut. Das Buch zu schreiben, hat mir selbst mehr Klarheit gegeben, von daher empfand ich es am Ende gar nicht so mutig, sondern zwingend nötig.

Was ist dir durch das Schreiben klarer geworden?
Ein Schwarzes Kind mit Behinderung zu bekommen, war nichts, das mich an sich überrascht hat. Doch wusste ich, dass es herausfordernd sein wird, dessen Weg als Mutter zu begleiten. Was bedeutet Verbündeten-Sein und eine machtkritische Elternschaft für mich? Ich hatte über all die Jahre so viele Erkenntnisse, denn ein Lernen über Behinderungen ist auch ein Lernen über die Gesellschaft. Es geht um so viele Aspekte, die sich überschneiden: um Körper, Schönheitsvorstellungen, das große Themenfeld Sozialdarwinismus, das nicht nur behinderte Menschen, sondern auch arme und migrantisierte Menschen betrifft. Es geht um die politisch sehr aktuelle Frage nach Nützlichkeit. Wir sollten uns diesen großen Themen stellen, damit unsere Gesellschaft sich wirklich hin zu einer offenen Gesellschaft verändert, die auch Unterschiede aushält. In der es nicht um Toleranz geht, sondern um Akzeptanz.
„Inklusion ist nichts für behinderte Menschen, sondern für alle. Nicht Besonderheiten sollten uns leiten, sondern Selbstverständlichkeit. Weil wir alle selbstverständlich da sind!“
Dein Sohn ist jetzt neun Jahre alt. Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?
Die Haupterfahrung ist, dass es Kämpfe auszutragen gilt, wenn man ein Kind mit Behinderung hat und man es genau wie nichtbehinderte Kinder aufwachsen lassen möchte. Dass man, wenn man eine Schule sucht, keine oder nur schwer eine findet, die wirklich inklusiv arbeitet. Von der Geburt meines Kindes an habe ich mich intensiver damit beschäftigt, was es bedeutet, sensibilisierte Räume für unseren Sohn zu finden. Ich würde behaupten, mein Mann und ich hatten das Glück, viele solcher Räume gefunden zu haben. Wo Menschen mit offenen Herzen und der Bereitschaft, Vielfalt zu besprechen und anzuerkennen, unserem Kind ermöglichen, mit Unterschiedlichkeit aufzuwachsen. Im Kern geht es um einen selbstverständlichen Umgang damit, einen ohne Bewertung, das ist der Punkt.
Zusammensein – Plädoyer für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit
Wie können wir unsere Gesellschaft als guten, offenen Raum für alle gestalten?
Mir geht es darum, ein Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln – das müsste jede Person zuallererst für sich selbst tun. Menschlichkeit und Humanismus sind Grundwerte unserer Demokratie, an die ich erinnere. Wichtig ist, zu überlegen, in welcher Gesellschaft ich leben möchte. Vielleicht muss ich mir persönlich auch eingestehen, dass ich nicht alle Menschen dabei haben will, und mich dann fragen, warum das so ist. Diese grundsätzliche Ehrlichkeit zu uns selbst und zu anderen ist wichtig. Denn auf der anderen Seite sind rechtspopulistische Narrative die einfacheren Erzählungen, an die sich schnell anknüpfen lässt. Kompliziert wird’s, wenn man sich mit Unterschieden und Diskriminierung auseinandersetzt, weil das bis in den eigenen Körper und ins Innerste hineinreicht. Hier wäre Mut gefordert, und damit wären wir wieder bei den Held*innen. Wer ist bereit dazu, jetzt Einsatz zu zeigen für sich selbst und für andere?
Text: Maria Zimmerer