„Das Einzige, was mich aufhalten kann, ist meine eigene Vorstellungskraft“, sagt Mirga Gražinytė-Tyla im Dokumentarfilm „Going for the Impossible“. Ein Blick auf ihren Werdegang unterstreicht den Eindruck: Diese Frau ist kaum zu bremsen, Karriere scheint für sie ein Kinderspiel. Geboren 1986, umgibt Gražinytė-Tyla von klein auf die Musik. Statt im Kindergarten ist sie bei Konzerttourneen der Eltern dabei und singt im Chor. Ihr Vater, ein renommierter Chordirigent, ihre Mutter Pianistin, die Großmutter Geigerin – alle hätten ihr gerne die Schattenseiten eines Lebens als Profimusikerin erspart. Aber auch wenn die junge Frau mit Erfolg erst Kunst studiert, folgt sie schließlich dem Ruf ihrer inneren Stimme zur Musik.
Zunächst als Chor-, dann als Orchesterdirigentin führt Gražinytė-Tyla eine bedeutsame litauische Tradition fort. Zu sowjetischen Zeiten waren Volks- und Protestlieder für die baltischen Länder wichtig, um die eigene kulturelle Identität zu finden. Und sie halfen dabei, „unsere Menschenrechte zurückzuerlangen“, erzählt die Musikerin in einem Interview. Scherzhaft sagt man, jeder zweite Litauer sei ein Chorleiter, bereits Kinder bekommen Dirigierunterricht. Mirga selbst hat mit 13 Jahren ihr erstes Volkslied dirigiert und erinnert sich noch genau an den Moment.
„Ich stand im Raum und war beflügelt.“
Und Mirga Gražinytė-Tyla hebt ab. Sie studiert Chor- und Orchesterdirigieren an der Grazer Universität, vertieft ihre Studien in Bologna, Leipzig und Zürich. Mit 28 Jahren wird sie Direktorin des Landestheaters Salzburg und ist ständige Gastdirigentin beim Los Angeles Philharmonic. Internationales Aufsehen erregt sie 2016, als sie mit 29 Jahren als erste Frau Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra wird und in dieser Position auf Dirigenten wie Andris Nelsons und Sir Simon Rattle folgt. Als „Stern von Birmingham“ begeistert sie die Klassikszene und erhält 2024 den Würth-Preis der Jeunesses Musicales Deutschland. Durch ihre Ehrlichkeit und Hingabe ist sie „eine glaubhafte Musikvermittlerin und ein Vorbild für alle, die klassische Musik im modernen Leben erfahrbar machen wollen“, heißt es in der Laudatio.


Musik als Lebenselixier
Trotz aller Anerkennung bleibt sie bescheiden, denn weniger ist oft mehr. „Das betrifft sowohl die Dirigiertechnik als auch ganz viele andere Ebenen“, sagt Gražinytė-Tyla gegenüber dem NDR. Bewusst hat sie ihrem Künstlernamen das Tyla hinzugefügt, was im Litauischen Stille, Ruhe und Schweigen bedeutet. Musik ist ihr Lebenselixier, aber die völlige Hingabe verlangt auch die zeitweilige Distanz dazu.
Während ihrer beruflichen Erfolge ist Mirga Gražinytė-Tyla Mutter von drei Kindern geworden. Wie sie es schafft, renommierte Orchester auf verschiedenen Kontinenten und Kinder zu bändigen? „Da sind wir noch auf der Suche“, sagt sie bei BR-Klassik und kennt Tage, an denen es gut oder eben auch kaum funktioniere, „aber irgendwie geht es immer weiter“. Als Frau zu dirigieren, war für sie hingegen schon immer eine Selbstverständlichkeit. Sie fühle sich unglaublich frei und habe insgesamt kaum Situationen der Diskriminierung erlebt.
„Es geht nur darum, sich authentisch zu fühlen und so zu sein, wie man ist.“
„Ich weiß nicht, was sie isst, trinkt und ob sie schläft – aber sie gibt immer hundert Prozent. Und diese Energie überträgt sich, man muss darauf reagieren“, erzählt ein Orchestermusiker im Dokumentarfilm. Am Pult erlebt man den „Wirbelwind“ mit vollem Körpereinsatz: Mirga springt, tanzt, malt große Gesten in die Luft, peitscht mit dem Taktstock oder steht ganz still da, mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen. „Es gibt kein Ich mehr in dem Moment, es geht um das Gemeinsame, welches in eine Richtung strebt“, so die Dirigentin. Schon die Vorbereitung eines Werkes ist für sie eine „innere Reise“, bei der sie sich auch mit sich selbst beschäftigt, erzählt sie in einem Interview. „Musik ist der Weg, ein Mensch zu sein und zu werden.“

Die zierliche Künstlerin wirkt energiegeladen und doch in sich ruhend, nahbar und sehr präsent im Hier und Jetzt. Dabei ist sie ständig auf der Suche nach dem „inneren Wachstum“, es drängt sie danach, sich weiterzuentwickeln und zu lernen. Schwere Stoffe kommen ihr da sehr gelegen: Erst 2024 hat sie „The Passenger“, die erschütternde Holocaust-Oper des jüdisch-polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg, dirigiert, ein Werk „von konzentrierter Kraft, das die meisten anderen Unterfangen, den Holocaust dramaturgisch zu fassen, in den Schatten stellt“ (New Yorker). Spürt sie zu viel Druck im Musikbusiness, müsse sie einfach „ihre Seele wachsen lassen“, so die Dirigentin in einem Radiobeitrag. Sie könne sich auch vorstellen, im geliebten Litauen einen Apfelgarten zu pflanzen und damit vielleicht glücklicher werden. Voller Vertrauen ins Leben und mit tiefen Gedanken geht Mirga Gražinytè-Tyla vorwärts: „Dieses Wachstum und dieses Glück – wo es steckt, ist vielleicht eine viel interessantere Frage.“
Mirga Gražinytė-Tyla live
mit den Münchner Philharmonikern und Vilde Frang (Violine)Text: Maria Zimmerer